Die letzte Nacht

von

Uli Treml

Juli 1995

Die Nacht war dunkel. Das Licht des Vollmonds fand kaum seinen Weg durch den wolkenverhangenen Himmel. Es war Herbst und die Kälte der Nacht kündigte den Winter an. Heute morgen hatte der Waldboden noch feucht geduftet und morgen würde es wieder so sein.

Der Wolf wußte das. Und er wußte, daß er die Erde zum letztenmal gerochen hatte. Diese Nacht war seine letzte. Ein Schatten seiner selbst trottete er durch den Wald. Genau vor einem Jahr hatte es begonnen.

Damals hatte er den Platz des Rudelführers abgeben müssen. Nicht kampflos. Seine Schulter schmerzte immer noch. Obwohl man ihm immer noch ansah, daß er einstmals über ungeheure Kraft und Ausdauer verfügt hatte, mußte er dem Herausforderer weichen. Nicht, daß man ihn verstoßen hätte. Gern hätte das Rudel ihm Schutz gewährt. 8 Jahre war er Rudelführer gewesen. Sein Stolz zwang ihn, das Rudel zu verlassen.

Nun suchte er die Stätten seiner Kindheit auf. Seine Erinnerungen waren alles, was ihm geblieben war. In der Höhle unter dem Felsen war er zusammen mit seinen zwei Schwestern auf die Welt gekommen. Bei dem Gedanken an diese Lebensspanne fühlte er, wie sein Herz schneller schlug. Es war ein unbeschwertes Leben, dessen Tage ständig neue Erlebnisse und Gefahren brachten. Vor den Gefahren beschützte ihn das Rudel und ganz besonders seine Mutter.

Mehr als einmal stand sie mit ihrem Leben für ihn und seine Geschwister ein. Da gab es den Dachs, der nachts kam. Nur wenige Tiere können ihm widerstehen. Beim vierten Versuch, eines der Wolfbabies zu stehlen, biß ihm die Mutter in die Nase, so erzählten ihm Onkel und Tanten. Von da an mied er die Gegenwart der Wölfe. Auch der Fuchs sah schnell ein, daß es für ihn hier nichts zu holen gab.

Am gefährlichsten war die Begegnung mit dem Bär. Er und seine Schwestern hatten einen Ausflug unternommen und waren vom Rudel getrennt. Selbst ein Bär hätte gegen ein ganzes Rudel keinen Stich gemacht.

Es war ein sonniger Tag im Frühsommer. Sie hatten heute gelernt, daß man vor einer Schlange keine Angst zu haben brauchte, daß sie aber auch keine lohnende Beute war. Schlängelnd war sie vor den neugierigen Jungwölfen unter einen Stein geflüchtet. Dann hatten sie ein Karnickel aufgestöbert und verfolgten es bis zum Fluß.

Den gleichen Weg schlug er auch jetzt ein. Am Fluß traf er auf ein Reh, das im weichen Ufergras äste. Es bemerkte ihn erst spät; umso schneller flüchtete es zurück in den Wald. Es konnte nicht wissen, daß von ihm keine Gefahr ausging. Er war ein Wolf auf seiner letzten Jagd. Eine Jagd nach ihm selbst und nach den Plätzen seines Lebens.

Am Ufer angekommen, beugte er sich ins Wasser und trank. Dann sah er sich um und sein Blick fand den Felsen, hinter dem damals der Bär gelauert hatte. Er erinnerte sich.

Das Kaninchen war plötzlich weg, dafür entdeckten sie den Bären. Den heranwachsenden Wölfen fuhr der Schreck in die Glieder. Noch nie hatten sie so ein mächtiges Tier gesehen, das sie mit einem tiefen Grunzen gewahrte. Sie kauerten sich aneinander und waren zu keiner Bewegung fähig.

Der Bär war hungrig, wie Bären es eigentlich immer sind, und war froh über diesen leichten Fang. Die Zähne fletschend trabte er auf sie zu. Auch bei ihm gab es kleine Bären, die gefüttert werden mußten. Im letzten Moment jagte Mutter, die etwas zurückgeblieben war, dazwischen. Sie stand nun zwischen ihren Kindern und dem Bären und knurrte fürchterlich.

Der Bär war erst verblüfft und dann zornig. Brüllend richtete er sich auf und wirkte noch bedrohlicher und gefährlicher. Das hätte er aber besser nicht getan. Mutter sprang ihm an die Kehle und biß sich fest. Der Bär, jetzt auf einmal in Todesangst, grub seine Pranken in die Flanken des Angreifers. Die Wölfin, wollte sie nicht von den messerscharfen Krallen zerfleischt werden, mußte den Biß lösen und fiel zu Boden. Hatte der Bär den Aufprall des Wolfes noch standgehalten, fiel er jetzt, von dessen Gewicht befreit, rücklings um.

Bei beiden Tieren klafften tiefe Wunden. Der Biß der Wölfin hatte nicht direkt den Hals getroffen, sonst wäre er des Todes gewesen. Trotzdem suchte er das Weite. Eine beherzte Wölfin, die ihren Wurf beschützte, war nun zuviel für ihn.

Die Mutter brachte ihre kleinen verschreckten Wölfe zu den anderen zurück. Dort fiel sie entkräftet und ausgeblutet in tiefen Schlaf. Die anderen Wölfe kamen herbei, ihre Wunden zu lecken. Doch erst als sie am dritten Tag erwachte und Futter verlangte, wußten sie, daß sie überleben würde. Wölfe und Bären gehen sich besser aus dem Weg.

Seine Mutter erholte sich nie mehr richtig von dem Kampf. Ihre Lebenskraft war geschwächt und sie konnte sich nicht mehr so sorgend um ihre Kleinen kümmern wie sie es bis dahin getan hatte. Im folgenden Winter, der ihr erster war, starb eine seiner Schwestern an Auszehrung und Kälte. Dies lehrte ihn, den Winter zu fürchten. Die Nächte waren lang und kalt. Von dem, was sie erjagten, konnte keiner satt werden. Gerade jungen Wölfen setzte der Winter am meisten zu. Er selbst überstand den Winter gut. Sein Fell war dicht und lang geworden. Auch hatte er nur wenig Gewicht verloren, so daß er im darauffolgenden Sommer viel wachsen konnte.

Mehr und mehr übernahm sein Onkel, ein Bruder seines verstorbenen Vaters und Berater des damaligen Führers, die Erziehung. So nahm er oft an den Besprechungen der ``Obersten Wölfe'' teil. Im Rudel herrscht eine strenge Rangordnung. Ganz oben steht der Rudelführer. Er legt fest, wann gejagt wird, wo gejagt wird, was gejagt wird und wie gejagt wird. Er teilt Kundschafter und Wachen ein, bestimmt den Lagerplatz und schlichtet bei Streitigkeiten. Er entscheidet, wann es Zeit ist, sich ein neues Revier zu suchen. Ihm zur Seite steht ein Beraterstab: die ``Obersten Wölfe''. Bei einer Rudelgröße von etwa 30 Tieren sind das die 5 stärksten Wölfe. Dann folgen die ausgewachsenen Wölfe, dann die Heranwachsenden und schließlich die Jungwölfe.

Auch seine Mutter war bis zu der Begegnung mit dem Bär unter den ``Obersten Wölfen'' gewesen. Ihren Platz nahm darauf sein Onkel ein. Doch, obwohl sie im Rang gesunken war, suchte er immer wieder die Nähe seiner Mutter. Selbst als er Rudelführer geworden war, schätzte er ihren Rat.

In diesem Sommer --- seinem zweiten --- zeigte sich, daß er irgendwann Rudelführer werden könnte. Aber bis dahin war noch ein weiter Weg und es gab auch andere verheißungsvolle Jungwölfe. Im dritten Sommer wuchs er zu voller Größe heran, wenn auch seine Kräfte noch zunehmen würden.

Dann trat sie in seine Mitte. Flußaufwärts war ein Wasserfall, der sich in einen kleinen See ergoß, aus dem wiederum der Fluß ablief. Zu diesem Wasserfall war er nun unterwegs. Da trafen ihn wieder die Schmerzen, tief in den Eingeweiden seines Unterleibs. Er fiel zu Boden und krümmte sich vor Schmerz. Obwohl es kalt war, wurde ihm heiß und er hechelte, um Kühlung bemüht. Die Anfälle kamen immer häufiger und heftiger. Nach einer Ewigkeit klangen die Schmerzen ab und er schleppte sich, vom Tode gezeichnet, zum Wasserfall.

Das Wasser stürzte von einem hohen Felsen herab. Auf dem Felsen hatte er sie damals gesehen. Natürlich hatte er sie schon oft gesehen, aber diesmal sah er sie mit anderen Augen. Ihr Haupt war stolz erhoben, die Ohren aufgestellt und sie horchte und roch in den Wind. Ihr Fell war kräftig und etwas dunkler als bei dem meisten Wölfen. Und sie vertrömte einen betörenden Duft. Nachdem er sie einige Minuten gebannt betrachtet hatte, näherte er sich ihr gegen die Windrichtung und stupste sie mit der Schnauze. Sie fuhr herum und tat überrascht. Dann strich sie mit der Pfote über seine Nase und lief davon. Er hetzte hinterher und von da an lief er eigentlich immer hinter ihr her. Oder sie ihm.

Unweit des Sees mit dem Wasserfalls un dem Felsen gab es eine Lichtung im Wald. Oft halten die Wölfe hier Versammlung ab und hier trugen sie auch ihre Kämpfe aus. Jeder Wolf war darauf bedacht, seinen Fähigkeiten entsprechend, sich in der Rangordung nach oben zu arbeiten. Meistens geschah dies durch Entscheidung des Rudelführers. Nur wenn der Rudelführer selbst herausgefordert wurde und seinen Platz nicht freiwillig räumte, kam es zu einem Kampf. In seinem fünften Sommer, war er stark genug, den Führer zu fordern. Indirekt war der jetzige Rudelführer für den Tod seines Vaters verantwortlich. In einem besonders harten Winter hatte er den Angriff auf die Stallungen der Menschen befohlen, bei dem sein Vater von den Menschen getötet worden war. Die Wölfe wissen, daß sie dem Menschen unterlegen sind und meiden ihn darum. Aber manchmal bleibt ihnen keine Wahl. Dies hatte ihm sein Onkel erzählt. Aber es spielte eigentlich keine Rolle. Er mußte den Rudelführer fordern. Jeder konnte sehen, daß er der Kräftigste war und genügend Erfahrung besaß, das Rudel zu führen. P> Die Lichtung war nicht mehr so wie sie früher einmal gewesen war. Damals, bei dem Kampf um die Herrschaft war sie ihm weiträumig und freundlich erschienen. Jetzt besetzte dichtes Strauchwerk den Platz und das Mondlicht rief eine gespenstische Atmosphäre hervor. Ihm war, als sähe er jetzt, viele Jahre danach, ihn und seinen Kontrahenten, gleichsam als zum Zuschauen verurteilter Beobachter, ihren Kampf austragen.

Es war ein ungleicher Kampf. Der alternde Rudelführer, unfähig seinen Platz aufzugeben, lief blindlings in die Krallen des Jüngeren, der jedem Schlag behende auswich und die Blößen des Gegners mit seinen Fängen bestrich. Der Alte wurde langsamer und kraftlos. Doch Wunden, Blutverlust und Erschöpfung konnten ihn nicht zum Aufgeben zwingen. Da preschte der Junge vor, stürzte den Rudelführer zu Boden und biß ihm die Kehle durch. Es dauerte nur ein paar Augenblicke bis die Zuckungen des Todgeweihten erlahmten und schließlich ganz aufhörten.

Der Sieger löste den Biß. Er triumphierte nicht über den Artgenossen, dessen warmes Blut durch seine Kehle lief. Es war getan, was getan werden mußte. Plötzlich veränderte sich die Szenerie. Der, der gerade noch gesiegt hatte, bot nun, sichtlich gealtert, einem starken Wolf die Kehle an. Er sah seinen zweiten Kampf an diesem Ort. Vielleicht hätte auch damals bis zum Tode weiterkämpfen sollen. Dann wären ihm die letzten beiden Jahre erspart worden.

Die Hitze in seinem Körper vernebelte sein Denken. Die Nacht neigte sich ihrem Ende zu. Einmal noch wollte er die Sonne sehen. Er schleppte sich von der Lichtung fort. Am Waldrand angekommen fiel er entkräftet zu Boden. Die Kälte des Untergrundes kroch durch sein zerzaustes, ungepflegtes Fell und drang ungehindert in seinen Leib ein. Er wehrte sich nicht und verlor das Bewußtsein.

Bald darauf ging die Sonne auf. Ihre Strahlen trafen auf den starren Körper eines Wolfes.