Der Grosse Garten

Uli Treml, Mai 2002

Wickie war heute früh aufgestanden, denn er wollte tief in den Wald hinein - so weit wie noch nie zuvor. Dazu hatte ihm seine Mutter Butterbrote und Äpfel in eine Tasche gepackt, die er sich frohen Mutes um die Schulter hing. Anschließend trabte er pfeifend zur Tür hinaus.

Noch schien das Dorf zu schlafen. Lediglich ein paar Dorfbewohner waren schon wach. Zu ihnen gehörte Thurje, der die Gänse fütterte. Aufgeregt jagten sie nach den Brocken, die Thurje ihnen zuwarf. "Ja, ihr werdet schon alle satt, nur Geduld!", versuchte er die Schnattertiere zu beruhigen. Vergeblich, wie sich gleich herausstellen sollte, denn Snorre torkelte schlaftrunken aus seinem Haus. "Jeden Morgen das gleiche, kannst du nicht deinen Vögeln etwas Benehmen beibringen? Du holzköpfiger Einfaltspinsel!"

Thurje, umringt von einer Schar hungriger Schwimmvögel, suchte sich zu verteidigen: "Gegen das Gekrächze deiner Stimme ist das hier lieblicher Schwanengesang!" "Ach, gebraten sind sie mir lieber", grunzte Snorre und torkelte in sein Haus zurück. Wickie wünschte den Gänsen guten Appetit und verließ Flake in Richtung des Waldes. Der Weg dorthin führte zu einer Brücke, die bequemen Übergang über ein kleines Flüsschen gewährte.

Daneben saß der dicke Faxe. Er hatte einen großen Sack bei sich, der ganz oben mit einer Kordel zugebunden war. Wickie wunderte sich, wie viele der Wikinger doch schon außer ihm bereits wach waren. Noch mehr erstaunte ihn aber, dass der Sack lebendig zu sein schien oder vielmehr, dass sich irgendetwas in dem Sack bewegte. Wickie überlegte, was es sein könnte. Vielleicht ein Kobold, den Faxe gefangen hatte? Ein Sack voll Flöhe? Oder gar der Klabautermann? Wickie kam nicht drauf. Dann bemerkte er den bekümmerten Ausdruck in Faxes Gesicht. Außerdem glaubte er, ein leises Wimmern aus dem Sack zu hören. Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er trat an Faxe heran und sagte:

"Guten Morgen, Faxe!".
"Oh, Wickie, Du bist es. Ich wünsche Dir auch einen guten Morgen, aber für mich ist er es nicht."
"Das hört sich ja gar nicht gut an. Was ist denn los? Vielleicht kann ich Dir ja helfen."
"Es hat mit dem Sack zu tun."

Das hatte Wickie schon vermutet. "Du willst bestimmt wissen, was darin ist", fuhr Faxe fort. Wickie nickte. Faxe löste die Kordel: "Sieh hinein!"

Endlich wurde Wickies Neugier gestillt. Was sah er nun? Anfangs sah er nur drei Pelzknäuel, die sich alsbald als drei putzige, kleine Kätzchen entpuppten. Allesamt waren sie schwarz-weiß gescheckt und sehr tollpatschig. Wickie schloss sie sofort ins Herz, weil sie so lieb waren. "Aber Faxe, wieso hast Du die kleinen Miezen in den Sack getan?", wollte Wickie schon fragen, doch dann sah er die schweren Backsteine am Boden des Sackes und da begriff er: "Nein, Faxe, das darfst Du nicht, Du darfst die Kätzchen nicht ertränken!". Faxe wollte tatsächlich die hilflosen Lebewesen in den Fluss werfen. Dort würden sie sofort untergehen und jämmerlich ertrinken.

"Aber Wickie, was soll ich denn machen? Im Dorf gibt es schon zu viele Katzen. Keiner wollte sie abnehmen und ich selber habe schon sieben. Irgendwann muss Schluss sein." Das sah Wickie wohl ein, trotzdem wollte er sich nicht damit abfinden und dachte nach. Dann machte er einen Vorschlag: "Pass auf Faxe, ich gehe jetzt in den Wald und da habe ich viel Zeit zum Überlegen. Vielleicht fällt mir etwas ein, was wir mit den Katzenbabies machen können. Wenn nicht, kannst Du das, was Du heute tun wolltest, auch noch morgen machen. Versprich mir aber, dass Du nichts unternimmst bis ich wieder da bin. Einverstanden?" Damit reichte Wickie Faxe die Hand. Sichtlich erleichtert schlug Faxe ein, nahm den Sack, und zwar so behutsam, wie man es ihm bei seinen groben Pranken gar nicht zugetraut hätte, und brachte die wimmernden Winzlinge zu ihrer Mutter zurück, die sie liebevoll in Empfang nahm und sogleich von der linken Hinterpfote bis zum rechten Ohr abschleckte und anschließend säugte. Faxe jedoch fauchte sie an und verpasste ihm einen Hieb mit der Tatze. Dass er ihre Kleinen weggenommen hatte, würde sie ihm nie verzeihen.

Nun hatte Wickie ein Problem, denn er wusste durchaus nicht, was man in dieser Lage tun konnte. Er beschloss zunächst seinen Weg wie geplant fortzusetzen. Oft kamen bei einem Spaziergang die besten Ideen. Während er so grübelnd immer tiefer in den Wald geriet, entdeckte er ein rotes, buschiges Etwas, das sich um einen Baum rankte. Dann sah er auch das Eichhörnchen, das zu dem Schweif - denn das war das rote, buschige Etwas - gehörte. Es beäugte ihn, zeigte aber kein Zeichen von Angst. Wickie war nur noch zwei, drei Schritte entfernt, so nah wie noch nie an diesem sonst so schreckhaften Baumbewohner. Als er jedoch seinen Arm ausstreckte um es zu streicheln, gurrte es empört und huschte den Stamm hinauf. Soviel Vertraulichkeit war ihm dann doch nicht geheuer.

Wickie ging weiter und nachdem er mal diesen Weg, mal jene Abzweigung genommen hatte, waren die Bäume plötzlich zu Ende und er stand auf einer Lichtung. Anfänglich war Wickie von der Sonne geblendet, die auf freier Fläche sehr viel heller strahlte als im Halbdunkel des Waldes. Als sich seine Augen darauf eingestellt hatten, sah er, dass in Mitten der Lichtung jemand einen großen Garten angelegt hatte. Neugierig betrat Wickie die fast parkähnliche Anlage. Den Weg, der manchmal mit Schotter und manchmal mit Sand bedeckt war, säumten Beete mit Blumen in leuchtenden Farben. Es wuchsen unbekannte Kräuter, die die verschiedensten verwirrenden Düfte aussendeten, Sträucher mit Beeren und dazwischen gab es sogar kleine Teiche deren Oberfläche mit Seerosen bedeckt war. So viele verschiedene Pflanzen hatte Wickie noch nie gesehen und er war begeistert von der Schönheit und Ruhe, die von diesem Platz ausging.

Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter und eine Stimme sagte: "Wen haben wir denn hier?". Wickie zuckte zusammen und war zu Tode erschrocken. Zitternd am ganzen Körper war er zu keine Regung fähig. "Na, na", brummte es, was nun sehr viel wohlwollender klang, "vor mir brauchst Du keine Angst zu haben, wenn Du kein Böser bist. Dreh Dich doch einfach mal um.". Das gab Wickie etwas Sicherheit und er konnte sich nun aus der Starre, in die er gefallen war, befreien und sich umwenden. Er blickte in zwei braune, gutmütige Augen. Darunter befand sich eine knollige Nase und auf dem Rest des Gesichtes spross ein zotteliger Bart. Der Fremde trug einen grünen Kittel und seine Füße steckten in festen Stiefeln. "Ich bin hier der Gärtner und wer bist Du?"
"Ich heiße Wickie. Ich bin ein Wikinger und wohne in Flake", brachte Wickie hervor.
"Soso, ein Wikinger bist Du also. Noch nie davon gehört. Was tust Du hier?"
"Ich mache einen Ausflug, ich möchte etwas sehen von der Welt. Wir Wikinger sind nämlich neugierig", antwortete Wickie nun schon etwas mutiger. "Ihr habt einen sehr schönen Garten."

"Ja, das stimmt, aber die Mäuse machen mir alles kaputt. Sie wühlen und graben und fressen. Sie fressen was ihnen schmeckt - und Mäusen schmeckt recht viel. Wenn das so weiter geht, ist der Garten bald kahl gefressen."
"Habt ihr denn keine Katze?"
"Nein, was ist denn das?"
Wickie staunte nicht schlecht. Mit Pflanzen mochte der Gärtner sich ja auskennen, aber er wusste nichts von Wikingern und hatte anscheinend noch nie eine Katze gesehen. "Eine Katze hat 4 Beine, einen Schwanz, Schnurrhaare, ein pelziges Fell und sie macht Jagd auf Mäuse."
"Dann ist es ein sehr wertvolles und einzigartiges Tier. Hast Du eines für mich? Ich würde Dich so gut ich kann belohnen!"
Wickie kamen fast die Tränen vor Glück. So konnte er gleich zwei Probleme lösen. "Ja, ich habe eine für Dich und Du musst mir auch nichts dafür geben. Aber dafür musst Du auch ihre drei kleinen Kinder nehmen, die ihre Mutter brauchen. Diese wird eifrig Mäuse für ihren Nachwuchs brauchen und in einem Jahr sind auch die kleinen erfahrene Jäger."

Freudestrahlend willigte der Gärtner ein. Schnurstracks kehrte Wickie nach Flake zurück, um Faxe die gute Nachricht zu überbringen. Faxe war überglücklich und gleich am nächsten Tag brachten sie zusammen die Katzenmama und ihre Babies zu dem Gärtner. Der hatte schon ein Körbchen hergerichtet, in das nun die Familie einzog. Behaglich schnurrten sie unter der Hand des Gärtners, der nicht nur mit Gewächsen sondern auch wie sich herausstellte mit Tatzentieren gut umzugehen wusste.

Unter Mäusen aber ging die Kunde, dass ein fürchterliches Ungeheuer im Garten sein Unwesen trieb, weshalb man nun ein großen Bogen um ihn schlug.